Die beste Zeit

" Dieses Jahr fahre ich nach Hause. " "Nach Hause? Wo ist denn das?" "Oben im Norden."
"Ja aber du bist doch schon so lange weg von dort." "Eben - deshalb fahre ich dieses Jahr auch hin und Weihnachten ist die beste Zeit dafür." "Hast du denn da oben Familie?"
"Zum Teil. Aber wichtig sind die Stadt, die ich kenne, die Freunde, die dort sind und das Gefühl, das ich habe, wenn ich an zuhause denke."

Wenige Wochen später war es so weit. Er war da. Alles war so, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Freunde waren immer noch die Alten, und das Weihnachtsfest war seit langem wieder einmal ein Fest für ihn. Die Stadt und alles was dazu gehörte nahmen ihn liebevoll in die Arme. War er wirklich schon so lange weg? Da gab es ein Lokal in der Altstadt. An das hatte er nur Erinnerungen durch die Betrachtung der Außenfassade. Früher kam man da nicht rein, wenn man recht lange Haare und nicht die rechte Gesinnung hatte. "Das ist heute zum Glück anders," meinte sein Freund "nur wenn ich dir so auf den Kopf sehe wären zumindest die Frisurprobleme gegenstandslos für dich." Na denn, nichts wie hin!

Sie machten einen Altstadtbummel. Die Straßenecken, die Häuser, die Geschäfte und natürlich die Kneipen winkten ihm zu: "Hallo! Bist du endlich wieder da? ...Wurde ja auch Zeit. Hattest du etwa vergessen, dass du zu uns gehörst? Wo hast du wirklich gelebt, gekämpft, geliebt, oft gewonnen und manchmal verloren? Genau! - Zwischen diesen Mauern und in diesen Straßen."

Er kannte jeden Stein und zu jeder Fassade hatte er eine kleine Geschichte parat. Er wußte sofort, dass er hierher gehörte. Hier und nirgendwo anders war sein zu Hause. Hier, wo der kleine Fluß, der die Stadt durchquerte einen Tiernamen trug. Hier, wo jedes Kind seit dem 30-jährigen Krieg mit dem Bewußtsein aufwuchs, dass Frieden lebensnotwendig ist für die Welt. Hier, wo Freundschaft ein Leben lang hält, weil sie aus dem Herzen kommt und nicht aus dem Geldbeutel. Wo Grünkohl und Bier schon bei der bloßen Erwähnung für glänzende Augen und ein gieriges Gefühl im Magen sorgten. Ohne darüber nachdenken zu müssen, war für ihn klar, dass er schon sehr bald für immer zurück kehren würde.

All das bewegte ihn als sie auf die kleine Kneipe zu gingen, die sich Schutz suchend an die alte Stadtmauer schmiegte. Schon von weitem hörten sie die Musik dröhnen - mal lauter, mal leiser im Rhythmus der sich öffnenden und schließenden Tür. Gute alte Rockmusik. Ein wohliges Kribbeln ging durch seinen Körper als sich die alte Holztür für ihn öffnete. Und dann war nichts mehr so wie jemals zuvor. Der Gastraum war nicht viel größer als ein durchschnittliches Wohnzimmer im sozialen Wohnungsbau. Wenn man ihn betrat, fiel der Blick sofort auf die Theke, an der fröhliche, gut gelaunte Menschen mit den Füßen im Takt der Musik wippten und mit halbvollen Gläsern ihren Nachbarn zuprosteten. In Bruchteilen von Sekunden nahm er dieses Bild war und ihm stockte der Atem. - In der Thekenmitte, den feuerroten Kopf mit diesem unvergleichlich schelmischen Grinsen der Tür zugewandt, saß das kleine Mädchen, dass er schon über 30 Jahre kannte. Sie sah ihm direkt in die Augen - in sein Herz und wieder zurück. In diesem Augenblick wurde die Zeit ausgeschaltet. Die Musik klang unendlich weit entfernt.

Außer ihnen waren die anderen Menschen nur noch wage Schatten an der Kneipenwand. Wie fern gesteuert hoben sie beide die Hand vor den Mund um nicht laut und irre los zu schreien vor Freude, Glück und Überraschung. Überraschung vor allem darüber, dass sich nichts geändert hatte in den 25 Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Natürlich, sie waren älter geworden. Sie hatte an Gewicht gewonnen und er hatte seine Haare verloren. Aber nichts auf der Welt war für sie beide unwichtiger. Wichtig war auch nicht, dass sie sich erkannten, sondern, dass sie sich kannten. Sie waren miteinander alt geworden ohne sich gesehen zu haben. Sie waren sich so nah, wie sich sonst eigentlich nur Menschen sein können, die diese vielen Jahre gemeinsam verbracht haben. Sie lagen sich in den Armen fast ohnmächtig vor sprachlosem Erstaunen. Wie kann das sein? Wie kann das gehen, dass man sich ein halbes Leben lang nicht sieht und sich dann nur in die Augen sehen muß um alles zu wissen?

Sie begannen zu reden und zitterten vor Aufregung und Angst, dass dieses Gefühl wieder verfliegen könnte. Ihre Hände hielten verzweifelt Kontakt. "Nur nicht loslassen - nicht wieder verlieren!" Langsam wurde ihnen bewußt, dass sie keine Angst zu haben brauchten. Der Lärm der Musik kehrte zurück. Die Menschen um sie herum bekamen wieder Gesichter und nichts in ihnen hatte sich verändert. Sie wußten, dass sie ein Geheimnis hüteten, für das ihnen die Erklärung fehlte. Nur eines wurde ihnen klar: Da sie sich nie verloren hatten, könnte das auch in Zukunft nicht passieren. Zeit und Raum hatten für sie ihre trennende Kraft verloren. Und sie hielten sich fest.

Calo v. Oss

© Calo v. Oss 2003

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